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PIECES BY GEORG PICHLER AND KRISTINA HORVARTH BELOW

=Aber vielleicht haben die Ritterschaft und die Verzauberungen heutzutage andere Wege zu nehmen als bei den Alten=. Peter Handkes Auseinandersetzung mit Cervantes und dem Don Quijote

Georg Pichler (Universidad de Alcala)

=Einmal musste er in die Welt des Miguel de Cervantes hineinkommen.=1

Wer hier versucht, in eine ihm fremde Welt und Literatur einzudringen, ist eine der sieben Figuren, deren Geschichten Peter Handke in seinem Roman Mein Jahr in der Niemandsbucht schildert und der Geschichte des Ich-Erzahlers beistellt, eine Figur, die Handke bezeichnenderweise =der Leser= nennt. Dieser Leser, ein sehr deutsches Schicksal, der im Dritten Reich geboren wurde und spater erst im Ostteil, dann im Westteil Deutschlands lebte, plagt sich mit den Exemplarischen Novellen des Klassikers ab. Trotz seiner mangelhaften Spanischkenntnisse buchstabiert er sich muhselig durch die Originalversion – doch seine Lektureversuche prallen immer wieder erfolglos am Text ab. Die asthetische Komponente der Sprache bleibt ihm nicht verborgen, aber er kommt mit der Darstellung des Inhalts durch den Autor nicht zurecht: =[...] er las zwar, hatte, gefragt, jede Einzelheit der jeweiligen ‚Exemplarischen Novelle= wiedergeben koennen, nur blieb er unbeteiligt, empfanglich hoechstens fur die Eleganz der spanischen Satzperioden, und das war nicht seine Art zu lesen.=2 Seine Art zu lesen ist die der Anteilnahme, der persoenlichen Implikation, der ernsthaften Auseinandersetzung mit einem Text und seinen Figuren, weswegen er schon als Kind am Don Quijote gescheitert war, denn er =konnte diese selbsternannten Helden und ihr Gefuchtel weder ernst nehmen noch komisch finden.=3

Einzig das Wissen um seine, des Lesers Vorganger =durch die Jahrhunderte=4, die den Don Quijote zu einem der meist gelesenen Bucher der Literaturgeschichte gemacht haben, all diese ernst zu nehmenden Leser, die sich in ihrer Summe nicht tauschen koennen, lassen den Handkeschen Leser sich weiter bemuhen. Womit er sich, dies nebenbei gesagt, in der fur Handke doch recht erstaunlichen Gesellschaft von Georg Lukacs befindet, der uber den Quijote ebenfalls meinte, =Erfolge dieser Art sind niemals zufallig=5. Der Handkesche Leser hat auch Erfolg, denn nach langem Lesen findet er eine Stelle, an der =ein Cervantes-Held endlich von einer anderen Gestalt der Erzahlung erstgenommen wird, worauf ebenso der Leser ihn endlich ernstnehmen konnte=6. Ernsthaftigkeit als Grundzug der Literatur, nicht nur innerhalb der Texte, sondern und vor allem ein Ernstnehmen der Literatur an sich.

Auf der anderen Seite steht im selben Roman eine zweite Figur, ein weiterer Freund des Ich-Erzahlers, der Maler und ein bekannter katalanischer Kunstler ist. Nach einer ziellosen Reise durch die beiden Kastilien fahrt er von Albacete aus durch die Hochebene Richtung Norden

an einer leichten, wie vor Jahrhunderten ausgeschaufelten Senke vorbei, einem leeren Geviert ein wenig unter dem schon mit der Wintersaat bebauten Nutzland, einer einstigen Viehhurde, verwildert, mit verstrupptem Gras, Resten eines Holzzauns, auch eines Verschlags, daran Pferdestrickfransen, am Boden eine Eselsklaue, ein Vogelskelett, und er dachte: =Das ist Cervantes= Welt! Das ist Spanien!=[...], und weiter: =Wie tun der Menschheit von Zeit zu Zeit solch lacherliche, sinnlose und einseitige Helden not wie der Don Quijote!=7

Die Literatur erschliesst sich dem Maler uber die spanische Landschaft, eine Landschaft, die zwar ein Bild der Verlassenheit und des Verfalls bietet, die aber in die Literatur eingegangen ist und aus ihr zuruckspiegelt. Nicht umsonst gehen bei Handke immer wieder Schriftzeichen in Landschaft, geht Landschaft in Schriftzeichen uber.8

Damit sind denn auch die Pole abgesteckt, zwischen denen sich Handkes Beschaftigung mit dem spanischen Klassiker abspielt. Einerseits setzt er sich mit Cervantes als Autor auseinander – und er tut dies auf weitaus kritischere Weise, als es etwa bei Goethe der Fall war, der lange Zeit als Leitstern uber Handkes Schreiben stand. War Goethe fur ihn eine Bereicherung seines eigenen Schaffens und wurde von ihm beinahe enthusiastisch verklart – so nennt er ihn =mein Dichter= oder meint =Dichter wie Goethe sind die Retter=9 –, ist Cervantes fur ihn ein Autor, zu dem er sich nur aus relativ grosser Distanz aussern kann. Bediente sich Handke bei Goethe der ubereinstimmungen, um fur seine eigene Literatur zu lernen, sind es bei Cervantes eher die Spannungsmomente zwischen dem Spanier und seinem eigenen Schreiben, die er produktiv nutzt.

Andererseits kommt Handke Cervantes uber die Landschaft sehr nahe. In einem Interview mit der Tageszeitung El País meinte er etwa: =En el Quijote aparecen los paisajes de una manera tan fabulosa y al mismo tiempo tan concreta como raras veces he leído.= Und fahrt in bezeichnender ubereinstimmung mit seiner Romanfigur, dem Maler, fort: =[…] aún hoy, cuando voy por los paisajes españoles y veo una de esas fincas semiderruidas, tengo que acordarme del Quijote.=10 Dieser Zugang ist sehr subjektiv und gibt eher Handkes Blick auf Spanien als Cervantes= Texte wieder. Denn die Landschaftsbeschreibungen im Don Quijote nehmen einen untergeordneten Rang ein und werden, im Vergleich zu den ausgefeilten und wohl konstruierten Dialogen, oft ironisierend eingesetzt oder wirken manchmal fremd und kunstlich, wie schon Vladimir Nabokov in seinen Vorlesungen uber den Quijote bemerkte.11

In seinem bislang groessten Roman Der Bildverlust oder durch die Sierra de Gredos hat Handke dem Autor des Quijote ein hintergrundiges, vieldeutiges Denkmal gesetzt. Handkes Roman berichtet von der Reise einer deutsch-sorbischen Bankfrau, die von einer noerdlichen Flusshafenstadt nach Valladolid fliegt, von dort erst mit dem Auto, dann mit dem Bus in die Sierra de Gredos fahrt, in der sie allerlei wundersame Begebenheiten erlebt, bevor sie das Gebirge zu Fuss uberquert und von der Sudseite der Sierra auf verschlungenen Wegen in einen =weltfernen, aber nicht weltvergessenen=12 Ort in der Mancha reist, in dem der Autor auf sie wartet, um ihre Geschichte niederzuschreiben.

Im Text gibt es vielerlei Anspielungen auf den Don Quijote und seinen realen Autor: Cervantes wird des oefteren namentlich genannt, man kann eine =Originalausgabe des Don Quijote=13 gegen eine =Buntglasmurmel= oder eine Kiste geweihter Sierra-apfel eintauschen, Handke bezeichnet seine Heldin als =señora andante=, es kommen eine = venta=, ein =ventero= und ein =escudero= vor, es ist von =Windmuhlenflugeln [und] boesen Riesen=, von einem =Ritter von der Finsterlichtung= und von =Numancia= die Rede, ja sogar Cervantes= Schreibhand tritt kurzzeitig in Erscheinung14. Und die Heldin des Romans war in ihrer Jugend wohl nicht umsonst =die Hauptdarstellerin in einem ‚Mittelalterfilm= gewesen=15.

uber diese blossen Zitate und relativ offensichtlichen Anspielungen hinaus gibt es jedoch weitere, aufschlussreichere Parallelen zwischen dem Bildverlust und dem Quijote: Gattungstypologisch etwa sind beide Romane Reisetexte, deren Erzahlraume nahe beieinander liegen und sich zum Teil uberschneiden. Nun sind aber Reisen in allen moeglichen Fortbewegungsarten eine Konstante in Peter Handkes Werk; und auch ein Gutteil der Protagonisten der Weltliteratur befindet sich auf Reisen oder ist in irgendeiner Form unterwegs, so dass dieses Thema allein die beiden Texte nicht wirklich miteinander zu vereinen vermag. Zudem ist die Behandlung der Reise innerhalb der realen Geografie in beiden Romanen sehr verschieden. Cervantes war, wie Nabokov treffend feststellte, =kein Topograf=16. Seine Ortsangaben sind diffus, prekar, allgemein gehalten, umfassen ein paar Ortschaften in der Mancha, Landstriche bis hin nach Barcelona, geben aber nicht wirklich Auskunft uber die Orte, an denen sich Don Quijote befindet. Der Hintergrund der Handlung bleibt ebenso wie die Landschaft bei ihm immer vieldeutig verschwommen. Handke hingegen lasst seine Heldin durch eine detailliert geschilderte Landschaft und ein reale Geografie ziehen, deren Orte er nennt, oft mit Angaben zur Seehoehe oder Einwohnerzahl beschreibt, sie aber auch mit Ortschaften mischt, die zwar tatsachlich, aber anderswo auf der Welt existieren. Ausserdem lasst er seine Protagonistin an diesen realen Ortschaften immer nur vorbeifahren, wahrend die Orte ihres Aufenthalts wie im Don Quijote in einer verwischten Undeutlichkeit gehalten sind.

Auf der strukturellen Ebene spielen sowohl der Don Quijote als auch Der Bildverlust mit den verschiedenen Erzahlebenen. Cervantes schob bekanntlich drei Erzahlinstanzen vor, hinter denen er sich verbarg: den arabischen Historiker Cide Hamete Benengeli, dessen Manuskript im 9. Kapitel des ersten Bandes vom fiktionalen Erzahler auf dem Markt in Toledo aufgefunden wird. Dieser lasst es von einem =morisco aljamiado=17, also einem des Spanischen kundigen Morisken, ubersetzen, um diese ubersetzung in seiner eigenen Version und mit Kommentaren versehen wiederzugeben. Handke hingegen verstarkt dieses Spiel insofern, als er die Geschichte seiner Bankfrau von einem fiktionalen Erzahler nacherzahlen lasst, der von ihr den Auftrag bekommen hat, ihre Abenteuer festzuhalten. Dieser Prozess des Schreibens wird von beiden immer wieder im Verlauf des Romans kommentiert: Wahrend die Bankerin dem Autor ihre Reise erzahlt, sprechen sie daruber, was und wie ihre Geschichte aufzuschreiben sei. In diesen Kommentaren finden die – um es zeitgemass zu sagen – literaturtheoretischen Ausfuhrungen im Don Quijote uber das Schreiben, uber Ritterromane, uber die Kunste ihre Entsprechung. In beiden Romanen wird so das Erzahlen an sich reflektiert und der Akt des Erzahlens zugleich in der Erzahlung selbst vorgefuhrt, eben das, was Juan Goytisolo einmal =mostrar los hilos de la trama y las astucias del tramoyista=18 genannt hat. Am Ende seines Romans lasst Peter Handke die Heldin mit dem Autor der Geschichte in einer Umarmung zu einer Einheit verschmelzen, Inhalt und Sprache so in der Bewegung des Schreibens eins werden. Dasselbe tut Cervantes, wenn er die Schreibfeder des Cide Hamete Benengeli am Schluss seines Romans das Wort ergreifen lasst: =Para mí sola nació don Quijote, y yo para él: él supo obrar y yo escribir, solos los dos somos para en uno=19. Kann man Handkes Schluss als eine erzahltheoretisch durchdachte Hommage an den Autor des Don Quijote lesen, diente die literarische Verschmelzung von Schreibfeder und Figur Cervantes vor allem dazu, einer weiteren Verwendung des Don Quijote durch den =escritor fingido y tordesillesco=20 oder andere apokryphe Autoren vorzubeugen.

Ein apokrypher Autor, so die nachste Parallele, kommt auch im Bildverlust vor, der jedoch bei Handke eine andere Funktion hat als bei Cervantes. Jener Alonso Fernandez de Avellaneda, =natural de Tordesillas=21, der von Cervantes bezeichnenderweise nur einmal namentlich genannt wird, gibt mit seinem falschen Buch dem Autor des wahren Don Quijote Anlass dazu, auf literarischer Ebene einen realen urheberrechtlichen Streit auszutragen und nebenbei das Werk dreifach zu kritisieren: aufgrund von =algunas palabras [...] en el prólogo=, wegen seiner Sprache und angesichts inhaltlicher Fehler22. Handke erfindet im Anschluss daran einen apokryphen Autor, der fur ihn das Gegenprinzip des Erzahlens verkoerpert und durch den er Medien- und Sprachkritik betreibt. Fur den wahren Handkeschen Erzahler aus dem Mancha-Dorf ist dieser apokryphe Nebenbuhler ein =falscher Erzahler, [...] weil er etwas erzahlt, das in meinen Augen nicht erzahlt gehoert=23, namlich pikante Details aus einer angeblichen Liebesbeziehung der Protagonistin. Und er schreibt diesem =Worte-und-Tatsachen-Verdreher, de[m] Schlecht- oder allzugut-Macher=24 falschen, da pathetischen und pseudowissenschaftlichen Sprachgebrauch zu25.

Zugleich ist aber Handke selbst ein apokrypher Autor. Im Bildverlust finden sich zwei Satze, die explizit Cervantes zugeschrieben werden: =Neben dessen Dunkelgestalt die helle Stelle aufleuchtend genau in Baumform: sein nachtliches Nachbild=, wobei der Handkesche Autor in Klammern hinzufugt: =Den Satz habe ich gestohlen bei Miguel de Cervantes y Saavedra.=26 Und kurz danach zitiert er erneut mit Quellenangabe: =‚Die Knappen erzahlen ihr Leben, die Ritter ihre Liebe= (noch einmal dein Miguel).=27 Beim ersten Satz ist es eher offensichtlich als beim zweiten: beide stammen nicht von Cervantes.

Aber auch an einer anderen Stelle des Romans, die erzahltheoretisch eher dem realen als dem fiktiven Autor zuzuschreiben ist, finden wir einen als woertliches Zitat von Miguel de Cervantes ausgewiesenen Satz. Eines der drei dem Roman vorangestellten Mottos lautet: =Aber vielleicht haben die Ritterschaft und die Verzauberungen heutzutage andere Wege zu nehmen als bei den Alten.=28 Der Satz ist von Handke wohl nicht ohne Absicht an diese prominente Stelle gesetzt worden.

Ein Motto ist, folgt man Gerard Genette, gemeinhin ein =Kommentar zum Text=, der haufig =ratselhaft [ist] und eine Bedeutung [besitzt], die sich erst nach vollstandiger Lekture des Textes erschliesst=29. Rollt man nun unter dem Licht dieses Satzes Handkes Roman noch einmal auf, so zeigt sich, dass neben all den bisher genannten, eher oberflachlichen Parallelen, zwei Aspekte die beiden Bucher trotz aller Unterschiede uber die Jahrhunderte hinweg verbinden: einerseits eine utopische Dimension, andererseits die fur beide Texte bedeutungsvolle Auseinandersetzung mit dem Wechselspiel von Realitat und Fiktion.

Ernst Bloch sah im ritterlichen Wunschtraum Don Quijotes weit mehr als einen =blossen sozialen Anachronismus, er ist auch archaisch-utopischer, dauernd mit dem einer kunftigen Welt verbunden, einer so edleren wie bunteren=30. Die aus einer falschen Vergangenheit genahrten Vorstellungen Don Quijotes von einer schoeneren, gerechteren, besseren Welt, die unausgesetzt an der Banalitat und Brutalitat seiner – in der Fiktion – =realen= Gegenwart zerbrechen, stellen fur Bloch eine Keimzelle der Utopie dar, auch wenn es sich nur um eine =Karikatur von Utopie=31 handelt. Eine Idee, die auch im Bildverlust zu finden ist: Handke lasst seine Heldin aus der Gegenwart in immer weiter zuruckliegende Zivilisationsstufen regredieren, bis sie eine unbestimmte Zeit in Hondareda zubringt, einem tatsachlich existierenden, aber fiktiv belebten Hochtal der Sierra de Gredos, dem so genannten =Circo de Gredos=. Hier leben die Menschen auf der Flucht vor der Welt des Draussen unter einfachsten Umstanden und im Einklang mit einer seltsam fremdartigen Natur, wohnen in Hoehlen, betreiben Tauschhandel, gehen der =Tauwissenschaft=32 nach, haben neue Zeit- und Langenmasse und einen eigenen =Rhythmus=33. Doch ebenso wie Don Quijotes Utopie an der Aussenwelt zerbricht, scheitert auch die Welt von Hondareda dadurch, dass sie von aussen zerstoert wird: zu bedrohlich ist diese Keimzelle eines anderen Lebens. Bei Cervantes sind der Priester und der Barbier die Reprasentanten der Obrigkeit, die Don Quijote auf den Weg der Normalitat zuruckbringen wollen, bei Handke ist es der in Armeebegleitung angereiste Fernsehjournalist, der anhand einer Bildbombardierung versucht, die Abweichler in die Zivilisation zuruckzuholen, eben in die =Erfahrung von der entzauberten Welt=34, von der Adorno mit Bezug auf den Illusionsverlust im Don Quijote sprach.

Und noch in einer anderen Hinsicht ist der Bildverlust dem Don Quijote verwandt: beide sind Medienkritik in dem Sinn, dass sie die Abbildungsfahigkeit der Realitat durch das Medium Sprache hinterfragen.35 Don Quijote war das erste Buch, das die Verwandtschaft der Zeichen zu den von ihnen bezeichneten Dingen auf kunstlerische Weise radikal in Frage stellte. Don Quijote will beweisen, dass die Bucher die Welt darstellen und ihre Sprache das bedeutet, was er auf der Welt vorfindet; er muss, wie Michel Foucault meinte, =die inhaltslosen Zeichen der Erzahlung mit Realitat fullen=36. An seinem, des Helden Scheitern an der Realitat sehe man zum ersten Mal =die grausame Vernunft der Identitaten und Differenzen bis ins Unendliche mit den Zeichen und den ahnlichkeiten spielen=37, also eben das, was Foucault zufolge auch die Literatur ausmacht. Cervantes hat – ob wissentlich oder nicht, ist fur unsere Belange nicht von Bedeutung – mit seinem Buch ein Werk geschaffen, das jeden direkten Bezug von Bezeichnetem und Bezeichnendem hinterfragt und so der Literatur eine neue Dimension eroeffnet. Mit anderen Worten: Kritik am Medium Sprache als gultige Wahrnehmungs- und Darstellungsform der Realitat. Handke tut dies ebenso, wenn er, gegen Ende seines Romans, den Bildverlust als Kritik an der Wahrnehmung der Wirklichkeit hinstellt. Denn der Bildverlust bedeutet, dass die von ihm Betroffenen ihrer eigenen Bilder verlustig gegangen sind, in denen =Aussen und Innen fusioniert zu etwas Drittem, etwas Groesserem und Bestandigerem=38 erschienen. Ersetzt werden sie durch kunstlich fabrizierte, genormte, gelenkte und gemachte Bilder, Bilder, die sowohl dem Ich als auch der Welt voellig fremd sind.

Handke spielt im Bildverlust mit diesen Bezugen wie das mehrmalige uberlegen des Erzahlers nahe legt, ob denn Cervantes nicht der bessere, der =Traum-Autor= fur die Geschichte der Heldin gewesen ware, gegen den er selbst nur =eine Art Notbehelf= 39 sei. Doch kommt er zu dem Schluss, dass =fur die Geschichte des Bildverlusts= wohl eher er, =der heutige Autor, der richtigere [sei] als ihr Miguel (de Cervantes y Saavedra, oder wie er hiess), fur den das seinerzeit doch kein Thema, oder Problem, gewesen ware? Oder doch?=40

Wohl doch, wenn auch auf anderen Wegen: Bei beiden geht es um die Wahrnehmung der Welt im Zusammenspiel zwischen innen und aussen, denn

zumindest eines hatte sie [die Bankerin] mit dem Helden der Geschichte ihres Miguel gemeinsam: sie suchte Abenteuer, wo gar keine, zumindest keine ausseren, sichtbaren, zu bestehen waren. [...] Auch seine Abenteuergeschichten waren, nicht anders als die vom Bildverlust-und-wie-sich-aus-ihm-Herauswirtschaften vor allem innerweltliche und gerade deshalb universale?41

uber diese Bestimmung finden Handkes Figuren Zugang zu Cervantes und sehen sich in einer Tradition mit dem Don Quijote. Und so ist es auch verstandlich, wenn Handke dem ironischen Abgesang auf die Ritterromane42 und dem ersten modernen Roman ein Denkmal setzt, das ihn zu einer Art Ahnherr der Literatur macht und ihn abhebt von den Erzeugnissen des Literaturbetriebs. In Nuevo Bazar, einer futuristisch beschriebenen Stadt, in der die Gewalt herrscht und die Menschen dem uniformen Verhaltenskodex des Konsum erlegen sind, hat die Protagonistin ploetzlich ein Bild vor Augen:

[...] in der Hoehe oben, im sechsten und letzten Stockwerk, dem Dachgeschoss eines Bucherwarenhauses, dessen samtliche Etagen bis dort hinauf prangen von den Stapeln, hier in Tempel-, hier in Pyramiden-, hier in Pfahlbauten-Form, des von Niveau Eins bis Niveau Sechs selben Titels, alle die Millionen Exemplare gleich dick, mit denselben Umschlagfarben, den identischen Bauchbinden: unterm Dach dort aber ein wie aus der Reihe der anderen gefallenes und in irgendwelchen Haltestricken oder als Dekor benutzten Fischernetzen mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten hangengebliebenes Buch, anders dick als alle die anderen, ohne Umschlag, sichtlich angelesen, so dass, hatte man ein gutes Fernglas zur Hand – man hat –, in dessen Fokus das Buch mitsamt den einzelnen Zeilen so nah ruckte wie manche dem freien Auge eines bodenwartigen Betrachters entzogenen Figuren weit weg an den mittelalterlichen Turmsimsen, und sich dergestalt etwa entziffern liesse: =An einem Ort in der Mancha, an dessen Namen ich mich nicht erinnern moechte, lebte vor nicht langer Zeit...=43

Ein Bild, das trotz oder gerade wegen seiner diffizilen Ausfuhrung Handkes poetologischen Standpunkt treffend beschreibt: Ganz oben im Konsumtempel des Literaturmarktes, nur aus der Ferne erkennbar, thront wie zufallig und scheinbar verloren in einer alten, unansehnlichen Ausgabe der Don Quijote uber der gesichtslosen Massenware als Sinnbild der Literatur, um die es Handke geht und in deren Traditionslinie er sich einschreibt. Seine eigenwillige Auseinandersetzung mit dieser Literatur, die er in Cervantes verkoerpert sieht und an deren Fortschreibung er sich macht, zeigt sich noch deutlicher, wenn man sie mit einem anderen Versuch vergleicht, den Don Quijote fur seine eigene Poetik zunutze zu machen.

In seinem 1985 erschienenen Roman Stadt aus Glas erzahlt Paul Auster die Geschichte des Krimiautors Daniel Quinn, der eines Tages einen Anruf erhalt und gefragt wird, ob er der Detektiv Paul Auster sei. Im Verlauf der Geschichte, deren Details fur unsere Belange nicht von Interesse sind, verirrt sich Quinn immer mehr in den Strassen von New York und stolpert in der einen wie der anderen Richtung uber alle moeglichen Schwellen zwischen Realitat und Fiktion, bis er schliesslich am Ende spurlos aus dem Roman verschwindet und einen verdutzen Paul Auster und den namenlosen Erzahler des Romans zurucklasst. Der gekonnt erzahlte, anspielungsreiche und hintergrundige Roman von Auster wandelt das Thema der Identitat in vielfaltiger Weise ab: Doppelganger in allen moeglichen Formen kommen vor, Namen werden ausgetauscht und angenommen und mit ihnen Identitaten gewechselt oder ausprobiert, die ubergange zwischen real existierenden Personen, in der Fiktion =realen= Figuren und Figuren aus der Literatur sind fliessend. Paradigma dieses Versuchs uber die Verwischung von Wirklichkeit und Unwirklichkeit ist der Don Quijote, dessen Einsatz vom Autor nach und nach vorbereitet wird. So taucht etwa beilaufig eine =Mrs. Saavedra=44 auf, deren Mann, wie man ebenso beilaufig erfahrt, =Michael=45 heisst. Der Protagonist Daniel Quinn ist nicht nur ein Namensvetter des Eskimos =Mighty Quinn= aus dem Lied von Bob Dylan, er hat auch dieselben Initialen wie Don Quijote. Und schliesslich, genau am Wendepunkt der Handlung, als der Held im Roman den Schriftsteller Paul Auster in dessen Wohnung besucht, um Klarheit in den Fall zu bringen, kommt es zu einem Gesprach uber den Don Quijote, das die komplexe Erzahlstruktur von Stadt aus Glas reflektiert. Der Paul Auster des Romans erklart Quinn, dass die Erzahlinstanz des Cide Hamete Benengeli =eine Kombination von vier verschiedenen Personen=46 sei: Sancho, als analphabethischer Augenzeuge habe die Geschichte dem Barbier und dem Pfarrer diktiert, die, um Don Quijote von seinem Wahn zu befreien, sie aufgeschrieben und das Manuskript Simon ( sic statt Sansón) Carrasco ubergeben hatten. Carrasco habe es ins Arabische ubertragen, aus dem es Cervantes wiederum ins Spanische ruckubersetzen liess. Im Grund aber sei es Don Quijote gewesen, der das =Benengeli-Quartett=47 organisiert und das Buch sogar selbst wieder ins Spanische gebracht habe, denn – so Auster in seiner erzahltheoretischen Verquicktheit – =Cervantes beauftragt Don Quijote, die Geschichte von Don Quijote zu entziffern. Darin steckt die grosse Schoenheit.=48 Hierin spiegelt sich in groben Zugen die erzahlerische Anlage von Stadt aus Glas wider: Auch der reale Autor Paul Auster beauftragt die Figur Daniel Quinn, seine eigene Geschichte zu loesen und zu entziffern, die in der Folge von einem anonymen Erzahler und Freund der Romanfigur Paul Auster aufgeschrieben wird.

Das Problem dabei ist, dass Auster sein literarisches Chiffrierspiel durchsichtig macht, es selbst erklart und sich selbst erlautert, so dass dem Leser kaum mehr Freiraum bleibt, die vom Autor ausgelegten Spuren in Eigeninitiative zu entschlusseln. Er kann den Vorgaben des Autors nur noch folgen. Dies geht so weit, dass es sich der Autor Auster nicht verkneifen kann, sogar das nicht unbedingt diffizile Spiel mit den Initialen des Helden aufzuloesen, denn Quinn fragt sich gegen Schluss des Romans, =warum er die gleichen Initialen hatte wie Don Quijote=49. Austers Roman, der in seiner expositionellen Anlage des oefteren an Borges denken lasst, bleibt so auf ein metaliterarisches Vexierbild in bester postmoderner Manier beschrankt, das den Textrahmen nicht sprengt.

Anders Handke: Er reflektiert, wie ich zu zeigen versucht habe, nicht nur uber die Moeglichkeiten der Literatur, die Stellung des Autors zu Zeiten Cervantes= und heute oder betreibt philosophisch fundierte Medienkritik, sondern loest auch die von ihm gestellten Fragen nicht auf, uberantwortet das Weiterdenken dem Leser und schafft somit durch seine Auseinandersetzung mit Cervantes ein Kunstwerk, das nach vielen Richtungen hin offen und produktiv ist

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HORVATH Krisztina
Warum versagt die Sprache? Kommunikationsstoerung in Peter Handkes Werk
Einleitung
Die Romanfigur: von der Schoepfung bis zur Rezeption
Erzaehlnormen und Innovation : Sonderheiten der Handkeschen Erzaehlweise
Gestaltung der Romanfigur in Handkes Erzaehlungen
Bewertung der Figuren als Leserorientation
Das Soziale im Roman
Die Romanfigur als sozialer Akteur
Individuum und Gesellschaft in Handkes Werken
Normen und Verstoesse
Kommunikationsstoerungen
Wieso versagt die Sprache? Ebenen der Kommunikationsstoerung in Handkes Werken
Die Welt als semiologisches System: Interpretation und Dechiffrierung
Aggressivitaet und Machtverhaeltnisse
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Primaertexte von Peter Handke
Behandelte Texte (benutzte Werkausgaben)
Weitere Primaertexte
Zu Peter Handke
Monographien, Sammelbaende und uebergreifend angelegte Darstellungen
Aufsaetze, Essays und Rezensionen zu einzelnen Texten
Allgemeine Sekundaerliteratur
=Ich moechte lieber ahnen statt wissen. Sprache ist ja in aller Regel zerstoererisch. Wenn sie nicht den richtigen Augenblick findet, zerstoert sie das Ungesagte.=
Peter Handke im Gespraech mit AndrE Mueller fuer die Zeit vom 3. Maerz 1989

=Weil die Angst vor dem Unsinn vorbei ist,
brauchen sie keine Ordnung mehr.
Und der eigene Eindruck? -
Weil der Unsinn vorbei ist, ist der Anblick
zugleich schon der Eindruck geworden.
Und die eigene Sprache?-=
Peter Handke: Die Sinnlosigkeit und das Glueck
1. Einleitung
In einem nach der Veroeffentlichung der Stunde der wahren Empfindung aufgezeichnetem Gespraech[1] sucht Peter Handke die Zielsetzung seiner schriftstellerischen Arbeit folgendermassen zu definieren: =Ich muss das Gefuehl haben, dass andere das brauchen, dass es eine nuetzliche Literatur ist, im weitesten Sinn. [...] Ich moechte als Schriftsteller, zumindest ist das mein Wunschtraum, wie ein amerikanischer Schriftsteller sein: dass ich nicht einfach meine Phantasie und meine AEngste ausbreite, sondern dass ich da eine Geschichte finde, die die Kommunikation bewirkt [...], dass ich naemlich auch das schreiben will, was die Leute verdraengen, was sie wegtun=. Doch scheint die zeitgenoessische Kritik von einer derartigen Kommunikationsintention kaum Notiz zu nehmen : Paradoxerweise treffen den Autor die meisten Vorwuerfe ausgerechnet wegen seiner Weltfremdheit und radikalen =Leserfeindlichkeit=. Der besonders gegen Handke gestimmte Manfred Durzak geht in seiner Kritik so weit, dass er behauptet: Die Handkeschen Werke seinen hoechstens als Dokumente einer psychischen Stoerung des Autors von Interesse, kaum aber als eine literarische Struktur, die Kommunikation bewirkt. =Wo soll in der Wirklichkeitsdarstellung der [...] Buecher die Geschichte zu entdecken sein, die Kommunikation mit dem Leser bewirken soll? - schreibt Durzak[2] - Handke [...] scheint es gerade darauf angelegt zu haben, mit einer zur Manie des boesen Blicks gesteigerten Denunziationsenergie alles das zu ersetzen und als unsinnig zu entlarven, was den einzelnen an Wirklichkeitsbezuegen umgibt und in eine menschliche Gemeinschaft der andern andeutungsweise integriert. [...] Die Verdraengungen, die Handke hier moeglicherweise aufarbeitet, sind seine eigenen, sind die traumatischen Residuen eines Bewusstseins, die in unkontrollierten Schueben brockenweise nach oben geschwemmt werden und als psychische Textur im Hoechstfall noch den Autor betreffen koennen, aber kaum mehr den Leser

Versucht man die auf Handkes Kommunikationsunfaehigkeit zielenden AEusserungen der zeitgenoessischen Kritik thematisch zu gruppieren, so ergeben sich im wesentlichen vier Punkte, die ihrerseits eng mit der rezeptionsaesthetischen Auffassung literarischer Werke verknuepft sind.

1. In Peter Handkes Werken praesentiert sich die Wirklichkeit entstellt =und bleibt von daher so kulissenhaft und zufaellig [...] Dadurch, dass die Aussenwelt schemenhaft bleibt und die Entstellungen nur als Als-ob-Deformationen [...] gezeigt werden, wird das Bild der Wirklichkeit durch einen narzisstischen Spiegelsaal ersetzt[3]=. Es sind also die Arbitraritaet und die Anwendung des Zufaelligkeitsprinzips, die den Autor daran hindern, in seinen Erzaehlungen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit Bezug zu nehmen.

2. Die Handkeschen Geschichten handeln beinahe ausschliesslich von nicht Einzelfaellen.  =Ist es als Zugang zur Wirklichkeit transponierbar auf ein bestimmtes Existenzgefuehl in einer bestimmten historischen Situation, in der Handke schreibt?[4] - dies wird auf Seiten der Kritik ernsthaft in Frage gestellt. Indem die Protagonisten oft sozusagen pathologische Zuege aufweisen, koenne jede Deformierung der Aussenwelt als Ergebnis dieser Bewusstseinszerstoerung verharmlost und relativiert werden.

3. Die Verdraengungen, die Handke in seinen Erzaehlungen aufarbeitet, seien nicht blosse Symptomen irgendeines gespaltenen Bewusstseins, sondern geradezu die Offenbarungen der eigenen Ã=psychischen Stoerung des Autors[5]=. Die wahnhafte Deformierung der Welt und die UEberbetonung des Ichs in den Texten seien also nicht einer Hermetik und in sich geschlossenen Struktur zuzuschreiben, sondern vielmehr dem Narzissmus und der rueckhaltlosen Subjektivitaet von Handke selbst. Demzufolge hiesse es: Handkes Werk =sei geschlossen wie eine Auster, ein Zeichen- und Bedeutungslabyrinth wie das Universum eines Schizophrenen, in dem Sprache nicht mehr zur Mitteilung verwandt wird, sondern um Mitteilung zu verschluesseln[6]=.

4. Indem der Autor die konventionellen Erzaehlmuster zerschlaegt und sie in einem scheinbar regellosem und verwirrendem Spiel neu zusammenfuegt, entfremdet er den Leser. Die durch die literarischen Modelle erweckte Erwartungen werden bewusst nicht erfuellt. =Die bewusste Kuenstlichkeit [der] Texte wirkt [...] jeder Identifizierung des Lesers entgegen. [...] Allerdings kann die Rezeptionsschwierigkeit, die diesem Erzaehlverfahren inhaerent ist, nicht uebersehen werden: dass naemlich durch die radikale Verfremdung des literarischen Diskurses der Text ohne Kommunikation bleibt und damit auch seine aufklaererische und bewusstseinsfoerdernde Intention scheitert[7]=.

An diesem Punkt koennen wir unsere Aufgabe formulieren. Sie besteht darin, die obigen Behauptungen der Kritik Schritt fuer Schritt zu untersuchen und mittels einer gruendlichen Analyse der Handkeschen Texte und unter Miteinbeziehung von einigen wichtigen theoretischen Schriften zu widerlegen. Dies soll in drei Schritten versucht werden. In einem ersten Schritt gilt es, die wichtigsten Innovationen von Handkes kuenstlerischen Schaffen kurz zu skizzieren. In diesem Teil der vorliegenden Arbeit soll vor allem auf die Fragen der Erzaehlhaltung und der Figurengestaltung naeher eingegangen werden, da diese kuenstlerischen Mittel fuer die charakteristisch entfremdende Wirkung der Handkeschen Texte besonders massgebend sind. In einem zweiten Teil sollen eventuelle (offene oder maskierte) gesellschaftliche Bezuege der behandelter Texte benannt und analysiert werden. Dabei gilt unsere besondere Aufmerksamkeit einerseits dem sozialen Geruest der dargestellten Romanbevoelkerung, andererseits den in den Charakteren integrierten gesellschaftlichen Wertsystemen, Normen und Normenverstoessen, die die Haltung des Lesers am nachhaltigsten zu beeinflussen scheinen. Schliesslich kommen wir zum dritten Schritt unserer Arbeit, wo untersucht wird, wie die Sprache in Peter Handkes Erzaehlungen zum wichtigsten Mittel der Gesellschaftskritik gemacht wird. An diesem Punkt ergibt sich ebenfalls die Frage nach der Wirkung und Funktionieren der Kommunikationsstoerungen, die auf allen Ebenen von Handkes Erzaehlungen zu beobachten sind und die nicht nur zu einer generellen Entfremdung des Lesers beitragen, sondern zugleich auch als Vermittler einer scharfen Kritik an den alltaeglichen menschlichen Interpretations- und Verstaendigungsmechanismen von besonderer Wichtigkeit sind.

2. Die Romanfigur: von der Schoepfung bis zur Rezeption
2.1. Erzaehlnormen und Innovation : Sonderheiten der Handkeschen Erzaehlweise
Was unterscheidet die Handkesche Schreibweise von den Erzaehlstrategien seiner Vorgaenger oder Zeitgenossen? Auffallend ist zwar die Haeufigkeit, mit der die Tageskritik Handkes bewusste Abkehr von bestimmten Erzaehlmustern und Gattungsgesetzen als entscheidenden Faktor seiner erzaehlerischen Haltung hervorhebt, nur ganz selten wird aber eroertert, welche Normen hier ueberhaupt gemeint sind. Wie in seiner Theorie des Erzaehlens Franz K. Stanzel darauf aufmerksam macht, sind =Umfang, Ausmass oder Grad der schoepferischen Energie, die von einer bestimmten Form literarischer Gestaltung gefordert wird [...] schwer - wenn ueberhaupt - messbar. Fuer die Erzaehlliteratur bieten die in einer bestimmten Epoche gelaeufigsten Formen des Erzaehlens, also die historischen Erzaehlformen und der Grad der Deviation eines bestimmten Erzaehlwerkes von diesen Normen, gewisse Anhaltspunkte fuer die Einschaetzung des Ausmasses und der Intensitaet der aufgewendeten schoepferischen Energie[8]=. Im Fall Peter Handkes werden jeweils der Verzicht auf die Spannung der Geschichte, die Aufhebung der erzaehlerischen Fiktion und der Verstoss gegen die Erwartungshaltung als Innovationen herbeizitiert. Ferner ist noch von einer entweder auffaellig distanzierten, oder sonderlich aus der Sicht einer Mittelpunktfigur berichtenden Erzaehlperspektive die Rede. Gelegentlich wird auch noch Handkes Tendenz erwaehnt, die Moeglichkeit einer auktorialen Erzaehlweise weitgehend zu vermeiden und die Motivation und Signifikanz aus dem Blickfeld auszuschalten. Sind aber all diese Kunstgriffe als Normenverstoesse, als Deviationen anzusehen?

In seinen theoretischen UEberlegungen verweist Stanzel auf den durchaus veraenderlichen Charakter der Erzaehlnormen, indem er die fuer den viktorianischen Roman gueltigen Normen mit den heutigen zu vergleichen sucht. Seine Schlussfolgerung lautet folgendermassen: Die auktoriale Erzaehlsituation oder die quasi-autobiographische Ich-Erzaehlsituation, die im viktorianischen Roman am haeufigsten anzutreffen waren =da ihre Durchfuehrung an einen viktorianischen Autor die geringsten Anforderungen stellte= sind heute als Norm nicht mehr zutreffend. = [...] die Erzaehlnorm des Romans der Mitte des 20. Jahrhunderts ist nicht eine auktoriale oder eine autobiographische Ich-ES [Erzaehlsituation], sondern eine auktorial-personale ES[9]=. Den Begriff =Idealtyp= oder =Prototyp der Erzaehlsituation= verwendet der Theoretiker fuer diejenige Struktur, die =den Autoren einer bestimmten Epochen am gelaeufigsten ist, die von ihnen am wenigsten Aufmerksamkeit und kreative Anspannung bei der Abfassung fordert und die daher auch im Trivialroman vorherrscht=. Es bleibt schliesslich die Frage, wie die fuer zeitgenoessische Literatur zutreffende Erzaehlnorm zu bestimmen sei und was man von einer Verfehlung dieses Idealtypus zu halten habe. =Es scheint hier angebracht, noch einmal zu unterstreichen, faehrt Franz K. Stanzel fort, dass Idealtypen keine literarischen Programme sind, fuer deren Realisierung Autoren mit einer Praemie der Kritik belohnt werden[10]. [...] Ohne uns dem Sibboleth der heute so weit verbreiteten Deviationstheorie ganz zu verschreiben, koennen wir sagen, dass durch die Verfehlung des Idealtypus in der Gestaltung der Erzaehlsituation u.U. einer Erzaehlung eher poetische Qualitaet oder Literarizitaet zuwaechst als durch eine moeglichst weitgehende Annaeherung an einen Idealtypus=.

Die Erzaehlsituation in den drei Handkeschen Texten deren gruendliche Analyse in der vorliegenden Darstellung angestrebt wird, ist keineswegs einheitlich. Vielmehr sehen wir uns berechtigt, ueber eine grundlegende AEnderung der Erzaehlhaltung zu sprechen, die sich von einer Erzaehlung auf die andere allmaehlich vollzieht. Bereits nach der Veroeffentlichung des Erzaehlbuchs Die Angst des Tormanns beim Elfmeter spricht die Kritik von einer Annaeherung des Autors an konventionelle Formen des Erzaehlens. Nach der Fabellosigkeit der frueheren Erzaehltexten entwirft hier Handke =eine klar umrissene Figur=, waehrend er auch zum erstenmal =eine geschlossene Erzaehlperspektive durchhaelt. Zudem wirkt der Stil dieser Er-Erzaehlung auffaellig distanziert[11]=. In der Tat haben wir hier mit einer sogenannten personalen Erzaehlsituation zu tun. Unter diesem Terminus versteht Stanzel jene Form des Erzaehlens, in der =an die Stelle des vermittelnden Erzaehlers ein Reflektor [tritt]: Eine Romanfigur, die denkt, fuehlt, wahrnimmt, aber nicht wie ein Erzaehler zum Leser spricht[12]. Dieses Verfahren vermag es gewoehnlich, dem Leser eine Illusion der Unmittelbarkeit zu vermitteln. Dieser nimmt die Welt des Romans mit den Augen einer Reflektorfigur wahr, wodurch er meistens auch deren Perspektive uebernimmt. Diese Perspektive und die scheinbare Unmittelbarkeit sollten es dem Leser ermoeglichen, die psychologische Motivation der Reflektorfigur gruendlicher zu verstehen und sich demzufolge mit diesem weitgehend identifizieren zu koennen.

Wenn dies im Tormann-Roman nicht der Fall ist, liegt nicht allein an der Erzaehlperspektive, sondern hauptsaechlich an der Gestaltung des Reflektors Josef Bloch. Die Kritik wirft Handke nahezu einstimmig vor, er verzichte =hier gerade auf das, was dem Kriminalroman so wesentlich scheint: auf die spannende Geschichte[13]=. Die Spannung versprechende Mordgeschichte, die als eigenstaendige Gattung sonst einen ueberraschenden Schluss und logisch erschliessbare Kausalzusammenhaenge voraussetzt, frustriert hier den Leser hauptsaechlich dadurch, dass die Erzaehlperspektive sich konsequent auf das Unwichtige, ja auf das fuer die Loesung der Geschichte absolut Irrelevante verlagert. Dies erfolgt in einem engen Zusammenhang mit der sonderlichen Sehweise der Reflektorfigur, die offensichtlich darauf beharrt, alles aus einer verkehrten Perspektive wahrzunehmen: =Als der Habicht dann auf der Stelle flatterte und herabstiess, fiel Bloch auf, dass er nicht das Flattern und Herabstossen des Vogels beobachtet hatte, sondern die Stelle im Feld, auf die der Vogel wohl herabstossen wuerde[14]=. In aehnlicher Weise beobachtet er einen Mann anstelle des Hundes, der dem Mann gerade zulaeuft[15] oder statt des Stuermers den Tormann: = Es ist sehr schwierig, von den Stuermern und dem Ball wegzuschauen und dem Tormann zuzuschauen, sagte Bloch. Man muss sich vom Ball losreissen, es ist etwas ganz und gar Unnatuerliches. Man sehe statt des Balls den Tormann, wie er, die Haende auf den Schenkeln, vorlaufe, zuruecklaufe, sich nach links und rechts vorbeuge und die Verteidiger anschreie. UEblicherweise bemerkt man ihn ja erst, wenn der Ball schon aufs Tor geschossen wird.[16]=. In diesem verkehrten Blick liegt zugleich der Schluessel zur Loesung der ungewoehnlichen Erzaehlsituation. So wie Block, der statt des aktiven Stuermers, der mit seinem motivierten Verhalten die Aufmerksamkeit des Lesers mit einer groesseren Wahrscheinlichkeit erregen wuerde, eher dem passiven Tormann Beachtung schenkt, lenkt hier der Erzaehler unsere Aufmerksamkeit auf den unschluessig wartenden Moerder, waehrend das spannende Verfahren der polizeilichen Ermittlung ausser Acht gelassen bleibt.

Diese Erzaehlperspektive bleibt im Grunde auch bei der spaeteren Aufarbeitung derselben Thematik im Roman Die Stunde der wahren Empfindung aufrechterhalten. Auch hier haben wir mit einer Reflektorfigur zu tun, der die Rolle zukommt, den Leser zu verfremden. Noch mehr als im Tormann-Text konzentriert hier die Erzaehlung auf den Inhalt des Bewusstseins einer Romanfigur: Gregor Keuschnig. Nicht nur seine Sinneswahrnehmungen werden dem Leser unter der Illusion der Unmittelbarkeit dargeboten, sondern auch seine Gemuetsschwankungen, Traeume und innere Gedankengaenge. Trotz der scheinbaren Unmittelbarkeit verzichtet aber Handke keineswegs auf einen allwissenden Erzaehler und tritt dadurch bereits hier den Weg zum auktorialen Erzaehlen und zu einer Aussenperspektive an. Dieser Erzaehler verraet seine Anwesenheit u.a. durch eine Antizipation der Geschichte, die der notwendigen Einschraenkung des Wissens- und Erfahrungshorizontes zufolge aus der Sicht eines Reflektors kaum moeglich waere: =So begann der Tag, an dem seine Frau von ihm wegging, an dem ihm sein Kind abhanden kam, an dem er zu leben aufhoeren wollte und an dem schliesslich doch einiges anders wurde[17]=. Da dieser auktoriale Erzaehler nicht verpersoenlicht wird, braucht er auch seine Kenntnis von Keuschnigs Gedanken und Innenwelt vor dem Leser nicht zu motivieren. Waehrend er aber in das Bewusstsein Keuschnig ein direkter Einblick darbietet, verweigert er uns jegliche Einsicht in die Beweggruende der Romanfigur. Daraus folgen einige entscheidende Eigenheiten der Hauptfigur Keuschnig, die dann bei dem Lesers notwendigerweise eine weitgehende Entfremdung bewirken.

In der dritten Erzaehlung Die linkshaendige Frau wird Handkes Annaeherung an eine Aussenperspektive fortgesetzt. Im Vergleich zu den frueheren Texten erscheint diese Perspektivenaenderung als eine entscheidende Innovation in Handkes kuenstlerischen Schaffen, die auch in den meisten Analyseversuchen der Kritik hervorgehoben wird. Manfred Durzak spricht ueber eine in Abstand verharrende Erzaehlperspektive und ueber das Ausbleiben einer erzaehlerischen Introspektion. Er bemerkt: =Die Figur Mariannes wird in ihren Gesten, ihrem Verhalten von aussen her abgetastet, wird nur als Erscheinungsbild vor den Leser hingestellt, ohne dass sie als Charakter, als Person eindeutig profiliert wuerde[18]. Auch Christoph Bartmann[19] macht auf diese =Vision von aussen= und zugleich auf die =Haeufigkeit, mit der von den Augen der Linkshaendigen Frau die Rede ist=, aufmerksam. Dies liesse nach Bartmann auf eine =Reduktion von der ausladenen Symbolisierung innerer Zustaende hin zur asketischen Aussensicht= schliessen: im Text sei also eine =moeglichst unscheinbare Subjektivitaet, die ohne Innensicht auskommt= intendiert. Obwohl aus diesem Text die innenweltlichen Vorgaenge bewusst ausgespart bleiben, wird hier weiterhin auf jede auktoriale Kommentierung und Werturteile verzichtet. In Wahrnehmungsprozesse und innere Monologe der Protagonistin wird zwar keine Einsicht mehr dargeboten, dennoch bleibt die Figur Marianne eine Art Reflektorfigur dadurch, dass ihre Anwesenheit und begrenzte Perspektive die Haltung des Erzaehlers zu motivieren scheint. Damit laesst sich die Erzaehlsituation als eine auktorial-personale bestimmen: Der Vermittlungsvorgang erfolgt aus der Position der Aussenperspektive wie bei der auktorialen Erzaehlform, zugleich ist aber der Handlungsablauf durch die eingeschraenkte Erfahrungsoptik einer Reflektorfigur orientiert.

Damit laesst sich also feststellen, dass das Erzaehlen der untersuchten Handkeschen Texte entweder aus einer personalen oder einer auktorial-personalen Erzaehlsituation stattfindet: ausgerechnet aus den Perspektiven, in denen Franz K. Stanzel die fuer den Roman der Mitte des 20. Jahrhunderts charakteristische Erzaehlnorm sieht. =Die moderne Erzaehlliteratur hat der Bewusstseinsdarstellung mehr Aufmerksamkeit zugewendet als irgend einem anderen Aspekt der dargestellten Wirklichkeit und dabei ein sehr differenziertes Instrumentarium von Darstellungsformen entwickelt[20]=, schreibt der Theoretiker. In dieser Optik kann Handkes Erzaehlhaltung wohl kaum als eine so entscheidende Deviation bewertet werden, dass sie allein imstande waere, die befremdenden Effekte Handkescher Texte zu erklaeren. Die bisher aufgedeckten Sonderheiten der Erzaehlstrategie Handkes lassen darauf schliessen, dass Erzaehlperspektive und Figurengestaltung eng miteinander verknuepft sind. Der eigentuemliche Charakter Handkes Werks sei also nicht allein durch die Untersuchung der Erzaehlposition zu ermitteln, sondern unter Miteinbeziehung von einer gruendlichen Analyse der Handkeschen Romanfigur.

2.2. Gestaltung der Romanfigur in Handkes Erzaehlungen
Die ersten Versuche, eine Poetik der Romanfigur zu entwickeln, wurden Anfang der 1970-er Jahren von franzoesischen Theoretikern unternommen. Unter dem entscheidenden Einfluss des Strukturalismus und des Nouveau-Romans wurde die Illusion der psychologischen Realitaet der Romanfigur blossgestellt indem man bewies: Die Figur sei nichts als =Wortgewebe=, eine blosse =Papierkreatur[21]=, die im hoechsten Fall als =participant= (Teilnehmer), keineswegs aber = (Lebewesen) angesehen werden darf. Philippe Hamon kommt das Verdienst zu, den von der traditionellen Kritik so haeufig uebersehenen Zeichencharakter der Romanfigur erkannt und dafuer die unterscheidenden Termini personne und personnage eingefuehrt zu haben. Diese Begriffe, fuer die die deutschsprachige Literaturwissenschaft keine praegnante Entsprechung fertig hat, koennten als =Persoenlichkeit= und Die Mode der psychoanalytischen Kritik traegt dazu bei, schreibt Hamon, [...] dass aus dem Problem der Romanfigur ein genauso verwickeltes wie schlecht gestelltes Problem gemacht wird [...] indem die Begriffe Persoenlichkeit und Person dauernd verwechselt werden. [...] Wir sind bestuerzt zu sehen, wie haeufig die sonst auf eine anspruchsvolle Methodik oder Verfahren basierenden Analyseversuche an dem Problem der Figur scheitern, weil sie auf diesem Gebiet ihre wissenschaftliche Prinzipien aufgeben um sich an den banalsten Psychologismus zu wenden[22]=. Folgerichtig hat es keinen Sinn, in einer wissenschaftlichen Arbeit literarische Gestalten vor eine Art Tribunal zu stellen, als handle es von lebendigen Menschen, die sich wegen ihres Verhaltens zu rechtfertigen haetten. Vielmehr sollte man die Figuren als Zeichen ansehen, die an der Kommunikation Autor-Text-Leser einen wichtigen - wenn nicht geradezu den wichtigsten - Teil haben. Aus dieser Hinsicht soll auch die Rolle der Romanfigur in den Handkeschen Erzaehlstrategien untersucht werden.

Der gegen die Handkeschen =Helden= meist erhobenen Vorwurf der Kritik betrifft einerseits =die geistische Irrealitaet im Verhalten der Figuren[23]=, andererseits ihre moralische oder emotionale Rueckstaendigkeit, die jeder Identifizierung des Lesers entgegenwirke. Zitiert werden vor allem die lieblos durchgefuehrten Geschlechtsakte Blochs und vor allem Keuschnigs, wessen Gefuehllosigkeit seiner Tochter gegenueber Durzak besonders zu empoeren scheint. Im Sinne der Trennung die - wie wir bereits festgestellt haben - zwischen realen Personen und literarischen Figuren zu erfolgen hat, erscheint uns eine solche, auf die Psychologie der Figuren zielende Kritik unberechtigt. Nicht weniger unbegruendet ist aber die Aussage, moralische Rueckstaendigkeit der Figuren koennte bei dem Leser eine unwiderrufliche Ablehnung bewirken. Wir vertreten eher die Meinung, dass die Art und Weise wie der Erzaehler uns eine Romanfigur vor die Augen fuehrt die Einstellung des Lesers zu dieser Figur viel nachhaltiger beeinflussen kann, als irgendeine ideologische oder moralische Ansicht, die der Figur zugeschrieben wird. Vincent Jouve spricht in seinem Buch LEffet-personnage von einer =Praedetermination der Rezeption der Romanfigur=, die mittels der Anwendung bestimmter Erzaehltechniken stattfindet: =Welcher Leser wuerde es behaupten, nie Sympathie fuer eine Figur empfunden zu haben, die jedoch unterschiedliche, den des Lesers sogar entgegengesetzte ideologische und moralische Optionen verteidigte? Ist vielleicht Raskolnikov nicht feig und dazu noch ein Moerder? Dennoch erreicht er, das wir seine Partei ergreifen[24]. Daher erscheint hoechst wahrscheinlich, das die Einstellung des Lesers in erster Linie davon abhaenge wie ihm die Figur von dem Text vorgestellt wird, und weniger von deren physischen und moralischen Portraet.

Wie wird aber in den Handkeschen Erzaehlungen die Hauptfigur ueberhaupt dargestellt und welchen Techniken ist ihr entfremdender Charakter zu verdanken? Das Portraet einer literarischen Figur, das sich bis zur letzten Seite der Erzaehlung in einem ununterbrochenen Prozess der Erweiterung und Bereicherung befindet, kann aus sehr verschiedenen Elementen bestehen. Einer der Wesentlichsten ist der Eigenname oder der eventuelle Beiname und Spitzname, mit dem die Figur bezeichnet ist. Nicht minder wichtig ist das physische Portraet, das die Sympathie des Lesers in einem besonders hohen Mass zu steuern vermag : Als Leser oder Zuschauer sind wir doch alle mehr oder weniger daran gewoehnt, den Held einer Geschichte in dem Schoensten der Darsteller zu erkennen. Zu dem Portraet gehoeren ferner noch die gesellschaftliche Position und soziales Verhalten der Figuren, die ihren Ausdruck oft in dem Beruf oder in den Familien- und Arbeitsverhaeltnissen finden. Nichtsdestoweniger charakteristisch sind aber die ideologischen und moralischen Grundsaetze, die die Figuren eventuell vertreten, die Beweggruende der von ihnen ausgefuehrten Handlungen und ihr Verhaeltnis zu der zum Ausdruck ihrer Ansichten verwendeten Sprache. Am allerwichtigsten sind aber die von dem Erzaehler festgelegten Richtlinien, die der Leser bei der Bewertung der literarischen Figuren zu beachten hat. Solche Kommentare haben einen unterschiedlichen Wert je nachdem, ob sie von dem Erzaehler, von der betroffenen Figur selbst oder von anderen Figuren stammen. In Die Angst des Tormanns beim Elfmeter werden Name und Beruf des Protagonisten gleich zu Beginn festgelegt : Josef Bloch war frueher ein bekannter Tormann, jetzt ist er Monteur und als solcher gerade entlassen worden. AEhnlich ergeht es Gregor Keuschnig, der ebenfalls bereits am Erzaehlanfang als Pressereferent der oesterreichischen Botschaft vorgestellt wird. Mit einer AEnderung der Erzaehlhaltung haengt zusammen, das in der Erzaehlung Die linkshaendige Frau die Protagonistin von dem Erzaehler nie anders als = oder =die Frau= erwaehnt wird : Nur aus den Dialogen erfahren wir ihren Vornamen, Marianne. Auf dem ersten Blick erscheint dieser Wechsel als eine Innovation in der Handkeschen Erzaehlstrategie, in der Tat handelt es sich aber um eine Distanzierung der Hauptfigur gegenueber, die bereits in den frueheren Texten zu beobachten ist : Weder Bloch, noch Keuschnig werden im Laufe der Erzaehlung mit dem Vornamen bezeichnet, der Erzaehler verwendet immer wieder den unpersoenlich klingenden Nachnamen oder gar das Personalpronomen. Mit dieser Distanzierung steht das voellige Ausbleiben der physischen Portraets aller Protagonisten in Parallele. Nie wird Blochs oder Keuschnigs Gesicht oder Bekleidung beschrieben, und auch von Marianne heisst es lediglich das sie Augen hatte, =die, auch wenn sie niemanden anschaute, manchmal aufstrahlten, ohne das ihr Gesicht sich sonst veraenderte=[25], was aber im eigentlichen Sinn wiederum keine Beschreibung ist. Das der Erzaehler nie von der aeusseren Erscheinung seiner Figuren berichtet, mag wohl an der Innenperspektive der Reflektorfiguren liegen. Da die Wahrnehmung der dargestellten Wirklichkeit in allen Texten vom Standpunkt eines personalen Mediums erfolgt, bietet sich kaum Gelegenheit, eine ausfuehrliche Beschreibung dieser Reflektorfigur zu erstatten. Selbst wenn der Reflektor gelegentlich mit dem eigenen Aussehen (z.B. vor dem Spiegel) konfrontiert wird, hat sein wertender Kommentar nie das Gewicht einer zumindest scheinbar glaubwuerdigen Erzaehlerstimme. In seinen theoretischen Schriften betont Franz K. Stanzel, das selbst in einer personalen Erzaehlsituation, wo die Darstellung anscheinend allein durch die Wahrnehmung einer Reflektorfigur orientiert ist, ist =in der Mitteilung dieser Wahrnehmung [...] auch noch die Stimme eines auktorialen Erzaehlers zu vernehmen, dessen point of view somit ebenfalls, wenn auch auf recht unbestimmte Weise, vom Leser registriert werden kann[26]=. Diese Stimme gibt dem Leser in keinem von den drei hier behandelten Texten klare Anweisungen hinsichtlich die Bewertung der Protagonisten. Damit koennen wir zumindest teilweise erklaeren, warum sich der Leser besonders verunsichert und befremdet fuehlt.

Diese Desorientierung koennte theoretisch durch die Innenweltdarstellung der gesichtslosen und zum Teil auch namenlosen Figuren aufgehoben werden. Im allgemeinen ist dieses erzaehlstrategische Mittel =ein aeusserst wirksames Mittel zur Sympathiesteuerung, weil dabei die Beeinflussung des Lesers zugunsten einer Gestalt der Erzaehlung unterschwellig erfolgt. Je mehr ein Leser ueber die innersten Beweggruende fuer das Verhalten eines Charakters erfaehrt, desto groesser wird seine Bereitschaft sein, fuer das jeweilige Verhalten dieses Charakters Verstaendnis, Nachsicht, Toleranz usw. zu hegen[27]=. Solche Sympathiesteuerung durch die Illusion der Innensicht findet in Handkes Erzaehlungen nicht statt. Was der Leser mittels des =unmittelbaren= Einblicks in das Bewusstsein der Figuren erfaehrt, ist nicht die psychologische Motivation, sondern lediglich eine chronologische Aufeinanderfolge von Gemuetszustaenden und fluechtigen Eindruecken, die durch ihre Veraenderlichkeit und staendige Schwankungen zu der Verunsicherung des Lesers noch weiter beitragen. Das die Beweggruende konsequenterweise ausgespart, die Kausalprinzipien ausser Kraft gesetzt werden, laesst auch die meisten von den Protagonisten ausgefuehrten Handlungen als ein staendiges zielloses Hinundher erscheinen, das den Leser geradezu frustriert. Innenweltdarstellung, d.h., der von dem Erzaehler dargebotene Einblick in die Gedankengaenge und Sinneswahrnehmung der Protagonisten bilden hier nahezu die einzige Konstituente, woraus die mit keiner klaren physisch-psychologischen Eigenschaften ausgestatteten Figuren bestehen. Selbst in diesem einzigen =Stoff= der Figuren haeufen sich aber unmotivierte, erratische Elemente und offensichtlich bedeutungslose Details, die den Leser bereits durch ihre haarspalterische Minuziositaet ueberanstrengen, anstatt ihre Nachsicht zu hegen. In Die Angst des Tormanns beim Elfmeter heisst es an einer Stelle : =Aus dem Sitzen war Bloch, ohne richtig aufzustehen, gleich weggegangen. Nach einiger Zeit blieb er stehen, fiel dann aus dem Stand sofort ins Laufen. Er trat schnell an, stoppte, lief jetzt rueckwaerts, drehte sich im Rueckwaertslauf um, lief vorwaerts weiter, drehte sich in den Vorwaertslauf um, wechselte nach einigen Schritten in den vollen Schnellauf ueber, stoppte scharf, setzte sich auf einen Randstein und lief sofort aus dem Sitzen weiter[28]=. Die von der Hauptfigur durchgefuehrten, staendig stockenden Bewegungen im Raum erscheinen dem Leser, dem die psychologische Motivation ja nicht mitgeteilt wird, nicht nur unueblich, sondern durchaus ziel- und sinnlos. Die Erzaehlung Die Stunde der wahren Empfindung scheint ebenfalls aus solchen, =durch [das] gleichzeitige Wahrnehmen scheinbar unverbunden nebeneinander liegenden[29]= Bildern zu bestehen, die die von Keuschnig in Paris unternommenen Spaziergaenge und die dabei empfundenen Gemuetsschwankungen und minuzioese Beobachtungen beschreiben. Selbst Die linkshaendige Frau, die anscheinend neue erzaehltechnische Mittel verwendet, bildet keine Ausnahme : Zwar wird hier auf die Darstellung der Gedankengaenge der Protagonistin verzichtet, dennoch bleibt eine detaillierte Angabe unbedeutsamer und bruechiger Handlungselemente beibehalten : =Sie ging, mit geschlossenen Augen, kreuz und quer durch den Raum ; dann, sich jeweils auf dem Absatz umkehrend, auf und ab. Sie bewegte sich rueckwaerts, sehr schnell, abbiegend, wieder abbiegend. [...] Sie setzte sich, stand auf, machte ein paar Schritte, setzte sich wieder. Sie nahm eine Papierrolle, die in einer Ecke lehnte, rollte sie auseinander, rollte sie wieder zusammen ; stellte sie schliesslich zurueck, wenig neben den alten Platz[30]=.

2.3. Bewertung der Figuren als Leserorientation
Zum Teil sind also die verfremdenden Effekte der Handkeschen Erzaehlstrategie mit der fehlenden Motivation und der daraus resultierenden distanzierten Darstellung der Hauptfiguren zu erklaeren. Aus den oben ermittelten Sonderheiten der Figurengestaltung ergeben sich dennoch Folgerungen, die wir nicht ausser Acht lassen duerfen, wenn wir das Funktionieren und die Wirkung der Erzaehltechniken Peter Handkes zu verstehen suchen. So stossen wir unvermeidlich auf das Problem der Beurteilung der Figuren und der relativen Verlaesslichkeit der Reflektorfigur als Mittler des fiktionalen Geschehen an den Leser. Die unterschiedliche Verlaesslichkeit des auktorialen Erzaehlers und einer Reflektorfigur ist ein Problem, das in den meisten Romantheorien gestellt wird. Henri Mitterand[31] macht darauf Aufmerksam, das in dem Roman einzig der Diskurs eines auktorialen Erzaehlers ohne Kritik zu entnehmen sei, die Aussagen der Figuren gelte dagegen als relativ. Dieser Gedanke findet auch bei Franz K. Stanzel Bestaetigung, der feststellt : =Der auktoriale Erzaehler [...] ist zwar auch nicht ueber alle Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit zu erhaben, er kann aber dennoch in der Regel solange Glaubwuerdigkeit beanspruchen, als dem Leser nicht ausdruecklich signalisiert wird, das auch diesem Erzaehler gegenueber skeptische Zurueckhaltung am Platz ist[32]= In Peter Handkes Erzaehlungen, wo die Handlung (ohne jeglichen auktorialen Eingriff oder wertenden Kommentar des Erzaehlers) ausschliesslich aus der Sicht der Reflektorfiguren mitgeteilt wird, entsteht allmaehlich ein Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Erzaehlung ausgerechnet durch eine Verunsicherung des Lesers, vor allem was die Verlaesslichkeit des wahrnehmenden Reflektors betrifft.

In seinem Buch Texte et idEologie untersucht Philippe Hamon die sogenannten =wertenden= oder =normativen Apparaten=, die in dem Erzaehltext eingebaut die Bewertung des Lesers orientieren. In dem Roman ist die Bewertung nicht unbedingt ein Monopol des Erzaehlers, behauptet Hamon, fuer die Bewertung einer Figur kann sowohl die Figur selbst, als auch der Erzaehler mit den verschiedenen Romanfiguren abwechselnd zustaendig gemacht werden. Damit aber dieser Urteil selbst zur Geltung kommt, muessen die wertenden Instanzen (ob Erzaehler oder Figuren) als vertrauenswuerdige Beobachter und kompetente, urteilkraeftige Bewerter qualifiziert werden. Im Fall einer Beobachterfigur ist es also von einem besonderen Interesse, die Sehfaehigkeit hervorzuheben und eventuell mit einem bestaetigenden Kommentar zu unterstuetzen[33]. In den Handkeschen Erzaehlungen ist von diesem Kriterium der Glaubwuerdigkeit nicht nur keine Spur, sondern es wird geradezu methodisch untergraben, indem der Leser auf die Seltsamkeit der Sehweise der Reflektorfigur aufmerksam gemacht wird. In der Angst des Tormanns beim Elfmeter heisst es gleich am Erzaehlanfang : =Dem Monteur Josef Bloch [...] wurde [...] mitgeteilt, das er entlassen sei. Jedenfalls legte Bloch die Tatsache, das bei seinem Erscheinen [...] nur der Polier von der Jause aufschaute, als eine solche Mitteilung aus[34]=. Durch den zweiten Satz wird die Verlaesslichkeit des nuechternen Tons nichtig gemacht : =Die Tatsache des ersten Satzes entpuppt sich als Interpretation und zwar eine hoechst seltsame Interpretation. Wo so interpretiert wird, ist etwas nicht geheuer. Die Ordnung und Sachlichkeit der Saetze truegt[35]. Nicht nur als unglaubwuerdiger Interpret wird Bloch enthuellt, sondern auch als ungenauer Beobachter, dessen Sinneswahrnehmung staendige UEberpruefung und Korrektion bedarf. So heisst es an einer Stelle : =Bloch bildete sich ein, die Geraeusche zu hoeren, mit denen die Bierflaschen aufs Spielfeld fielen. [...] Es kam ihm vor, als haette man die Flutlichtanlage eingeschaltet[36]=. Immer wieder werden die von Bloch erfahrenen Objekte und Prozesse als =Als-ob-Erscheinungen= dargestellt, die in der Regel durch die Formeln =Bloch kam es vor als=, oder =die Bilder schienen= eingeleitet werden. OEfters werden Stoerungen in Blochs Wahrnehmungsvermoegen zur Sprache gebracht, die teils als absichtliche Prozesse charakterisiert werden : =Er versuchte moeglichst wenig wahrzunehmen= [S.8], teils aber automatisch eintreten : =Bloch, der nicht gewohnt war, so viel Einzelheiten wahrzunehmen, schmerzte der Kopf= [S.28] oder =Bloch war gereizt. Innerhalb der Ausschnitte sah er die Einzelheiten aufdringlich deutlich : als ob die Teile, die er sah, fuer das ganze standen. [...] Auch tat ihm der Kopf weh [...] Die aufdringlichen Einzelheiten schienen die Gestalten und die Umgebung, in die sie gehoerten, zu beschmutzen und ganz zu entstellen [S.76-77]. Der Leser erfaehrt ausser der blossen Wahrnehmungen Blochs auch seine Gedankengaenge, die das Gesehene oder Gehoerte begleiten und bewerten, ist aber gleichzeitig gewarnt, diese Interpretationen fuer verlaesslich zu halten. Die Einschaetzungen der Reflektorfigur enthalten keine Anhaltspunkte, die dem Leser fuer eine Unterscheidung von Wichtiges und Unwichtiges behilflich sein koennten : =Buchstaeblich war alles, was er sah, auffaellig. Die Bilder kamen einem nicht natuerlich vor, sondern so, als seien sie extra fuer einen gemacht worden. Sie dienten zu etwas. Wenn man sie ansah, sprangen sie einem buchstaeblich in die Augen. Wie Rufzeichen, dachte Bloch. [...] Die Ausschnitte, die man sah, schienen an den Raendern zu flimmern und zu zittern= [S.87]. Nicht minder befremdend ist fuer den Leser das staendige Korrigieren der bereits wahrgenommenen und beschriebenen Erfahrungen : =Bloch erwachte von dem Knallen und Schnaufen auf der Strasse, mit dem die Abfalltonnen in den Muellwagen gekippt wurden ; als er aber hinausschaute, sah er, das vielmehr die Falttuer eines Busses, der gerade abfuhr, sich geschlossen hatte [...] ; die Missverstaendnisse fingen wieder an= [S.39]. Wenn die entfremdende Wirkung einerseits durch das Ausbleiben jeglicher orientierenden Erzaehlerkommentare erzielt wird, das den Leser geradezu zwingt, sich allein auf die nicht einmal halbwegs glaubwuerdigen Beobachtungen und UEberlegungen der Reflektorfigur zu verlassen, wird andererseits das Vertrauen des Lesers durch den Aussenseitercharakter Blochs erschuettert. Zu Recht bemerkt Stanzel, das =die verfremdende Wirkung der erlebten Wahrnehmung [...] im modernen Roman meist nicht mehr mit allegorie- und fabelaehnlicher Rolleneinkleidung erzielt [wird] [...], sondern durch die Wahl von Charakteren vor allem aus den Randschichten der Gesellschaft. Die Zahl der Aussenseiter, Verfemten, Deklassierten, die im modernen Roman mit dieser Funktion betraut werden - man denke an Leopold Bloom, Josef K., Bieberkopf, Meursault -, ist auffaellig gross. Die Konzentration auf die Seh- und Erlebnisweise eines Geisteskranken oder Debilen [...] ist als konsequente Fortsetzung der Tendenz zur Verfremdung durch eine extreme Form der Mediatisierung zu verstehen[37]. Diese Definition des modernen Romancharakters mag wohl auf jeden Handkeschen Protagonisten zuzutreffen, zumindest erscheint es der Kritik offensichtlich verfuehrerisch, Handkes Erzaehlungen in einer psychoanalytischen Interpretation als Krankengeschichten zu lesen. So wird zum Beispiel Blochs Wahrnehmungssystem haeufig als das eines Schizophrenen identifiziert, der nicht mehr imstande ist, sich aus seiner sonderbaren Wahrnehmungsweise zu loesen, d.h., =von sich selbst zu abstrahieren und seine Perspektive auf die Wirklichkeit zu relativieren[38]=.

Waehrend Blochs zielloses Umherirren und merkwuerdig =planloses und unmotiviertes= Verhalten haeufig mit der beginnenden Schizophrenie gleichgesetzt wird, sind bereits mehrere Interpretationsversuche unternommen worden, die Gregor Keuschnig der Stunde der wahren Empfindung als einen typische Borderline-Patienten ansehen. Wolfgang Ign oder Tilmann Moser identifizieren Keuschnig als eine neurotische Gestalt, die die Welt =als eine Welt von Zeichen, von Symbolen erlebt= und =die Sexualitaet als eine vermeintliche Bruecke zum anderen zu betrachten und zu benutzen= pflegt, =wobei der Partner nicht als Partner wahrgenommen zu werden braucht, sondern nur als Objekt kurzer, aber komplizierter Verschmelzungsvorgaenge fungiert[39]=. Wie vorher im Fall Blochs, erfaehrt der Leser die Aussenwelt auch in der Stunde der wahren Empfindung aus der Optik des Protagonisten, der zugleich eine Reflektorfigur ist. Wie frueher Bloch, ist auch Keuschnig ein sonderbarer Beobachter, von dem ein objektiver Bericht der Aussenwelt kaum zu erwarten ist. Seine Sinneswahrnehmung vermischt sich mit inneren Monologen, die das Beobachtete zugleich bewerten. Diese Bewertung erfolgt aber aus einem ueberaus schwankenden Standpunkt, der sich unter dem Einfluss Keuschnigs Gemuetsbewegungen fortwaehrend aendert. So erscheinen ihm die beobachteten Objekte mal furchterregend und bedrueckend, mal beruhigend und harmonisch : =Trotzdem machte ihn schon der naechste Blick auf die Wolken wieder verdrossen. Er wollte nichts mehr sehen. Verschwinde endlich - alles! [...] - Ich nehme wahr wie fuer jemand andern! dachte Keuschnig. Es war aber eine kurze Anmerkung. Mit der Bewegung, mit der er dann vom Gehsteig in den Drugstore an der Avenue Matignon einbog, kam er sich auf einmal, wenigstens fuers erste, gerettet vor[40]=. Der Traum, der Keuschnigs Unbehagen ausloest und der als =Erfahrungsschock= den Protagonisten aus dem Alltagstrott herausreisst, repraesentiert keine ausreichende Motivation fuer eine so abrupte Loesung aller Beziehungen und fuer ein derart asoziales Verhalten, wie Keuschnigs : Als sie in den Taxi stieg, dachte er daran, ihr zu sagen : Ich hoffe das du zurueckkommst. Er versprach sich aber und sagte, in demselben Ton, in dem er eigentlich das andere meinte : Ich hoffe, das du stirbst.[41]. Noch ausdruecklicher als Bloch im Tormann-Text, schaetzt sich Keuschnig selbst als Aussenseiter ein. Waehrend der Selbstbewertung des Protagonisten in der Angst des Tormanns beim Elfmeter noch keine besonders wichtige Rolle zukommt, schaetzt sich Keuschnig, dessen Bewusstseins- und Koerperempfindungen sich stets ueberlagern, selbst immer wieder als einen Aussenseiter ein. Ab heute fuehre ich also ein Doppelleben, dachte er. Nein, gar kein Leben : weder das gewohnte werde ich nur vortaeuschen, noch ein neues ; [...] Ich fuehle mich hier nicht mehr am Platz, kann mir aber ueberhaupt nicht vorstellen, irgendwo anders am Platz zu sein ; kann mir nicht vorstellen, so weiterzulesen, wie bis jetzt, aber auch nicht, zu leben, wie jemand andrer gelebt hat oder lebt[42]. Wie frueher Bloch, so wird nun auch Keuschnig mit seinem Spiegelbild konfrontiert : Unter diesem Vorwand bewertet er nicht nur das eigene Ich, und zwar durchaus negativ, sondern auch seine Bewusstseinsgespaltung und seine Verfremdung, ja Ekel vor sich selber kommen zum Vorschein : Im Innenspiegel des Taxis erblickte er unversehens sein Gesicht. Er wollte es zuerst nicht erkennen, so entstellt es war. Ohne das er nach Vergleich suchte, fielen ihm sofort mehrere Tiere ein. Jemand mit diesem Gesicht konnte weder Gedanken noch Gefuehle aussprechen. Er schaute sich noch einmal an, aber weil er jetzt, wie am Morgen bei dem Spiegel vor der Baeckerei darauf vorbereitet war, fand er das Gesicht nicht wieder, auch nicht, als er suchte, indem er Grimasse schnitt. Aber es war passiert : mit diesem einzigen vorgefassten Blick hatte er auch noch das Einverstaendnis mit dem eigenen Aussehen verloren. [...] Jedenfalls sollte man mit einem solchen Gesicht still sein, dachte er. Mit dieser Larve war es sogar eine Anmassung, Selbstgespraeche zu fuehren. Undenkbar, noch einmal freundschaftlich Na du! zu sagen. Andererseits - und bei diesem Gedanken setzte er sich auf - konnte er sich mit einem solchen Gesicht auch die Gefuehle leisten, die bis jetzt nur in den Traeumen vorgekommen waren! [...] Mit dieser gemeinen Miene gab es keine Ausreden. Keuschnig traute sich alles zu [...] Keuschnig bekam Angst vor sich selber[43]. Eine solche befremdende Darstellungstrategie ist um so bemerkenswerter, als dadurch die Sympathie des Lesers Keuschnig doppelt, einerseits als einem sich seltsam benehmenden Protagonisten, andererseits als einer subjektiven und unverlaesslichen Beobachterfigur, verweigert wird. Die Innovation der Stunde der wahren Empfindung ist dennoch nicht diese Steuerung der Verfremdung, sondern das Auftreten einer zweiten Beobachterfigur, die den Protagonisten von aussen her bewertet und damit den fehlenden Bezug zu der Wirklichkeit wiederherstellt. Dies ist die Aufgabe des oesterreichischen Schriftstellers, in dem manche Kritiker sogar eine Art Alter-Ego Keuschnigs zu sehen pflegen. Durch die Beobachtung des Schriftstellers wird Keuschnigs Verhalten aus einer anderen Perspektive gezeigt und zugleich treffend beschrieben. Die von dem Schriftsteller durchgefuehrte Verbalisierung und Analyse Keuschnigs seltsamen Benehmens dient vor allem als Orientierungspunkt fuer den verunsicherten Leser, der bis jetzt vergebens nach einer Einlaeuterung der Situation gesucht hat.

Auch Marianne, die Protagonistin der Linkshaendigen Frau gehoert zu den Aussenseitern. Wie Bloch und Keuschnig, aendert auch sie ihr Leben schlagartig, ohne dafuer einen besonderen und explizit ausgedruckten Beweggrund zu haben. Im Unterschied zu den frueheren Erzaehlungen Handkes wird aber hier zum ersten Mal auch auf die Innenweltdarstellung der Hauptfigur verzichtet, die im uebrigen ein wirksames Mittel ist, den Leser zugunsten einer Romangestalt zu beeinflussen. Diese Strategie wird von Stanzel folgendermassen bewertet : In Peter Handkes Roman Die linkshaendige Frau (1976) werden ziemlich konsequent die innenweltlichen Vorgaenge, die offensichtlich das erzaehlte Geschehen begleiten, ausgespart. Hier werden ganz bewusst im Text Unbestimmtheitsstellen gelassen, durch die der Leser fortlaufend zur Komplementierung des Erzaehlten aus seiner eigenen Vorstellungs- und Erfahrungswelt veranlasst wird[44]. Laesst der Text den Leser darueber meistens im Zweifel, was die Protagonistin empfindet und wie sie die anderen Figuren bewertet, so erfahren wir hier ausfuehrlich, wie sie selbst von den verschiedenen Bewerterfiguren eingeschaetzt wird. Waehrend in der Stunde der wahren Empfindung nur noch eine Figur imstande war, die Situation des Protagonisten zu versprachlichen, so finden wir in dieser Erzaehlung bereits eine umfangreiche Gruppe von Figuren, die Marianne von verschiedenen Standpunkten her zu analysieren und einzuschaetzen versuchen. Der Ehemann Bruno, die Lehrerin Franziska, der Verleger, der Vater, der Schauspieler und sogar das Kind Stefan kommentieren einer nach dem anderen Mariannes Bemuehungen, ihr Leben zu aendern. Die Protagonistin selbst bildet keine Ausnahme : Sowohl in Dialogen, als auch in - vor dem Spiegel gefuehrten - Selbstgespraechen drueckt sich ihre eigene Haltung und Selbsteinschaetzung aus. D=ie Frau : Ich bin beklommen, glaube ich; [...] Sie ging zu dem Spiegel im Flur und sagte Jesus - Jesus - Jesus. [...] Zuhause stand die Frau vor dem Spiegel und schaute sich lange in die Augen ; nicht um sich zu betrachten, sondern als sei das die einzige Moeglichkeit, ueber sich in Ruhe nachzudenken. Sie begann, laut zu sprechen : Meint, was ihr wollt. Je mehr ihr glaubt, ueber mich sagen zu koennen, desto freier werde ich von euch. [...] Sie stand vor dem Spiegel und sagte : Du hast dich nicht verraten. Und niemand wird dich mehr demuetigen![45]. Im Parallele zu diesem doppelten Bewertungssystem sind dem Leser im Laufe der Erzaehlung verschiedene Zeichen der Regression begegnet, die, wie das Loch im Pullover oder das fehlende Knopf, den Weg der Protagonistin zum Aussenseitertum illustrieren. Wenn die linkshaendige Frau trotz der fehlenden Motivation, der ausgesparten Innenweltdarstellung und den widerspruechlichen Aussagen der wertenden Figuren nicht zu einer negativen Figur wird, liegt hauptsaechlich daran, das diese sich im Laufe der Geschichte als nicht glaubwuerdiger und nicht weniger Aussenseiter enthuellen, als die Protagonistin selbst. Die elementare Angst, die Bruno in seiner Einsamkeit in Finnland empfindet und die zwanghafte Suche nach Geborgenheit, die er nach seiner Heimkehr unternimmt, Franziskas Flucht vor dem Alleinsein in die Frauenbewegung, des Verlegers abrupte Trennung von seiner Freundin, begruendet allein durch den Gedanken, das diese ihm einen juengeren Mann vorziehen koennte, all diese Tatsachen sprechen dafuer, das Glaubwuerdigkeit und Urteilkraeftigkeit der Figuren eng mit der Position verknuepft ist, die sie in dem sozialen Geruest des Romans besetzen. Was daraus zu erschliessen ist, ist zunaechst die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Aspekten der Handkeschen Romanfiguren. Die soziale Dimension darf also bei einer Betrachtung verfremdender Effekten der Erzaehlstrategien Peter Handkes nicht ausser Acht gelassen werden.

3. Das Soziale im Roman
3.1. Die Romanfigur als sozialer Akteur
Worauf eine soziale Welt gegruendet wird [...] ist das dialektische Verhaeltnis zwischen der Welt und dem Roman, durch das die Fiktion ergriffen werden kann [...][46] - schreibt Claude Duchet in Lectures sociocritiques. Fuer Duchet ist der Roman ein fiktiver Raum, dessen Organisation von spezifischen narrativen Techniken abhaengt, aber zugleich auch ein gesellschaftlicher Mikrokosmos, dessen Elemente die Totalitaet einer kulturellen Einheit brechen, die selbst in die reale Welt eingeordnet ist. Gerade weil der Roman wie eine Gesellschaft funktioniert und sich auf unsere soziale Erfahrungen beruft, gelingt er zur Kohaerenz einer Praxis, und dadurch, zweifelsohne, auch zur Literarizitaet. Diese Definition der Beziehungen zwischen Roman und Gesellschaft erscheint uns um so interessanter, als er darauf verzichtet, den sozialen Aspekt eines literarischen Textes unmittelbar in der ausserliterarischen Realitaet zu suchen. Anstatt uns mit der Genese oder Rezeption eines Werkes zu befassen um dessen Originalkontext wiederherzustellen suchen, koennen wir also das Soziale auch woanders suchen : im Textes selbst. Nicht in der Absicht, den literarischen Text als unmittelbare Widerspiegelung einer Ideologie oder als historisches, oekonomisches oder kulturelles Dokument der realen Gesellschaft seiner Entstehungsepoche zu lesen, wie das von Georg Lukacs empfohlen wird. Diejenige Kritiker, die bei Handke die Schemenhaftigkeit und Deformation er Aussenwelt als das voellige Ausbleiben jeder sozialen Dimension auffassen und den subjektiven Ton der Handkeschen Erzaehlungen mit einer totalen Interesselosigkeit fuer gesellschaftliche Fragen gleichsetzen, scheinen mit Lukacs darueber einverstanden zu sein, dass nur realistische Kunst kann [...] die Wirklichkeit konkret und adaequat widerspiegeln, weil sie die Erscheinungen nicht aus dem Gesamtzusammenhang herausloest[47]. Hingegen sind wir hier vielmehr der Meinung, die Peter V. Zima in seiner Textsoziologie vertritt : Es waere jedoch falsch anzunehmen, dass Literatur die gesellschaftliche Widersprueche unmittelbar wiedergibt ; diese erscheinen vielmehr als durch die literarische Produktion vermittelt : Auf Grund dieser entscheidenden Konstellation ist das Werk selbst widerspruechlich[48].

Wie soll aber das Soziale im Erzaehltext und vor allem in der Struktur der Romanfiguren aufgedeckt werden? Im Roman, wo alles bedeutet und kein Detail auf den Zufall ueberlassen wird, ist das Soziale ueberall anwesend. Folglich kann die Romanfigur selbst, die davon nur einen Bruchteil, eine Bedeutungseinheit unter so vielen anderen darstellt, kaum mit einer Totalitaetsanspruch untersucht werden. Dennoch unterscheidet sie sich aufgrund ihres antropomorphen Charakters von den uebrigen Bedeutungeinheiten des Romans, indem sie mit allen sozialen Umgangsformen des Menschen (mit der Art und Weise, wie dieser sich ernaehrt und bekleidet, wie er wohnt, arbeitet, leidet, geniesst, usw.) gekennzeichnet werden kann. Ein Vierteljahrhundert nach der Veroeffentlichung von Philippe Hamons[49] Plaedoyer fuer einen semiologischen Status der Romanfigur besteht heute kein Zweifel mehr, dass fiktive Gestalten nicht als Personen, sondern als Zeichen anzusehen sind, die ihrerseits wiederum aus sprachlichen Zeichen bestehen und zugleich mit verschiedenen semiologischen Systemen der wirklichen Gesellschaft eng verknuepft sind. Diese komplexe Zeichen erfuellen aber ihre Rolle erst wenn der Text von einem Leser aktualisiert wird, das heizt, in der Interaktion, die zwischen Text und Leser ablaeuft. Ausschlaggebend ist, dass im Lesevorgang der Leser der Romanfiguren nicht vereinzelt, sondern in ein quasi soziales Umfeld eingebettet begegnet, wo diese bestimmte Stellen besetzen und gewisse gesellschaftliche Rollen spielen. Erfahrungen aus der Lebenspraxis koennen dem Leser die Orientierung in solchen Romangesellschaften verbuergen : die Lesersympathie kann durch die den einzelnen Figuren zugeteilten gesellschaftlichen Positionen entscheidend beeinflusst werden. Hier soll jetzt eine der wesentlichsten Konsequenzen fuer die Interpretation beschrieben werden, die direkt aus der hierarchischen Darstellung von Romangesellschaften herzuleiten ist : Je groesser ist das gesellschaftliche Ansehen, dass eine Romanfigur in der fiktiven Romangesellschaft geniesst, desto groesser wird auch die Bereitschaft des Lesers, sich mit dieser Figur zu identifizieren. In bestimmten traditionellen Erzaehlmustern (denken wir bloss an den Bildungsroman) bildet der Sozialisationsprozess eines Protagonisten geradezu das zentrale Thema des Romans. Dagegen kann eine misslungene Sozialisation jeder Identifikation entgegenwirken. Folgerichtig wird einer als Aussenseiter oder weltfremder Sonderling dargestellten Romanfigur die Lesersympathie oft verweigert, besonders dann, wenn - wie es in Handkes Erzaehlungen meistens der Fall ist - das Verhalten der Aussenseiterfiguren durch keine ausreichende Motivation rechtfertigt wird. Statt Sozialisation geht es in Peter Handkes Texten ausgerechnet um die Loesung aller gesellschaftlichen Bindungen der Protagonisten, und sogar dieser Entfremdungsprozess vollzieht sich scheinbar ohne Grund. Die Interpretation der Handkeschen Protagonisten, die gegen die von der Romangesellschaft vertretenen Normen verstossen, wird dem Leser besonders erschwert, indem er durch die sonderlich Erzaehlperspektive stets in Unsicherheit gehalten wird. Die Handlung wird ihm allein aus der durchaus unverlaesslich erscheinenden Perspektive der Haupt- und zugleich Reflektorfiguren mitgeteilt, die jedoch nie durch explizite Erzaehlerkommentare bestaetigt oder verurteilt wird. Diese Situation wird von Wolfgang Iser folgendermassen beschrieben : Dabei kann der Leser sich allerdings weder auf die Bestimmtheit gegebener Gegenstaende noch auf definierte Sachverhalte beziehen, um festzustellen, ob der Text den Gegenstand richtig oder falsch dargestellt hat. Diese Moeglichkeit des UEberpruefens, die alle expositorischen Texte gewaehren, wird vom literarischen Text geradezu verweigert. An diesem Punkt entsteht ein Unbestimmtheitsbetrag, der allen literarischen Texten eigen ist, denn sie lassen sich auf keine lebensweltliche Situation so weit zurueckfuehren, dass sie in ihr aufgingen beziehungsweise mit ihr identisch wuerden. [...] Wenn der Leser die ihm angebotenen Perspektiven des Textes durchlaeuft, so bleibt ihm nur die eigene Erfahrung, an die er sich halten kann, um Feststellungen ueber das vom Text vermittelte zu treffen[50]. Um sich in der Welt des Romans doch zurechtzufinden bleibt dem Leser wohl nichts anderes uebrig, als sich mit den verschiedenen, durch die Romangesellschaft vermittelten Werten auseinanderzusetzen, um auf dieser Weise zu einer befriedigenden Interpretation der Protagonisten zu gelingen. Wir koennen also feststellen : Wo es zwischen Aussenseiterfigur und Gesellschaft zu einem Konflikt kommt, kann der Leser der Wahl nicht entgehen, die Partei eines der beiden entgegengesetzten Wertsystemen zu ergreifen.

3.2. Individuum und Gesellschaft in Handkes Werken
Die Handkeschen Protagonisten gehoeren nicht a priori zu den Randschichten der Gesellschaft, vielmehr scheinen sie eine Art Sonderstatus zu geniessen. Manfred Durzak nennt sie zutreffend oekonomisch freischwebende Existenzen[51], die zumindest in bequemen Verhaeltnissen leben. Bloch ist frueher als bekannter Fussballtormann mit seiner Mannschaft durch die Welt gereist. Keuschnig lebt als Pressereferent der oesterreichischen Botschaft im eleganten sechzehnten Arrondissement in Paris, Marianne, die Protagonistin der Linkshaendigen Frau, die mit einem wohlhabenden Geschaeftsmann verheiratet ist, in einer Bungalowsiedlung, ueber dem Dunst einer grossen Stadt[52]. Wenn ihre Integration in die Gesellschaft trotzdem nicht oder nur unvollstaendig erfolgt, liegt es an der elementaren Angst, die sie gemeinsam haben : eine bedrueckende Angst vor dem Ertapptwerden, Angst, aus der Rolle zu fallen. Sie scheinen alle Masken zu tragen, empfinden aber dabei ein Unbehagen, von dem sie sich schliesslich gezwungen fuehlen, das Rollenspiel aufzugeben und zugleich auf ihre soziale Position zu verzichten. In der modernen Literatur dient das Maskenmotiv haeufig zur Verdeutlichung eines Identitaetszerfalls : Die Maske erlaubt dem Individuum eine Rolle zu spielen, sich zu verbergen. Sie setzt aber das Individuum als das von seinen Masken Verschiedene voraus[53] Handkes Protagonisten befuerchten alle, dass ihnen eines Tages die Maske von dem Gesicht gerissen wird und das dahinter verborgene wahre Gesicht zum Vorschein kommt. Sie vermuten, dass eine derartige Enthuellung ihrer wahren Identitaet von Seiten ihrer Umgebung nichts anderes als Abscheu und Zurueckweisung hervorrufen wuerde. Was aber hier als Umgebung gemeint wird, ist auf merkwuerdige Weise nicht die oeffentliche Sphaere, die nach Naegele und Voris zunehmend Entfremdungscharakter annimmt[54]. In erster Linie handelt es sich bei Handke um die private Sphaere, die gewoehnlich durch eine Trennung des buergerlichen Subjekts in ein privates und oeffentliches [...] mehr und mehr [...] beinahe als der einzige Raum fuer individuelle Entfaltung gesehen wird : die OEffentlichkeit ist da, wo man nicht bei sich selbst ist, wo man gesellschaftliche Rollen spielt, also fremdbestimmt ist, nicht selbstbestimmt. [...] Das Resultat ist ein Selbstgefuehl, das sich nur noch in der Innerlichkeit findet und fuer das alles OEffentliche aeusserlich und selbstentfremdend ist. Nur im kleineren Kreis der Familie, der Freundschaft geniesst man sich selbst[55]. Von einer solchen Innerlichkeit in Familien- und Freundeskreis kann in Handkes Erzaehlungen kaum die Rede sein. Ganz im Gegenteil erscheint den Protagonisten gerade die private Sphaere bedrohlich, waehrend sie sich in den gewohnten gesellschaftlichen Rollenspielen der OEffentlichkeit am meisten verborgen fuehlen. Bloch ist geradezu fasziniert von der Selbstaendigkeit, mit der [...] die Kinokassiererin den Teller mit der Eintrittskarte ihm zugedreht hatte. Er war ueber die Schnelligkeit der Bewegung so erstaunt gewesen, dass er fast versaeumt hatte, die Karte aus dem Teller zu nehmen. Er beschloss, die Kassiererin aufzusuchen[56]. In der Stunde der wahren Empfindung kommt noch ausdruecklicher zur Sprache, wie sich der Angstzustand, in dem sich der Protagonist Keuschnig stets befindet, durch den Umgang mit Fremden in lebensueblichen Alltagssituationen mildert. Diese Art der Geborgenheit erlebt Keuschnig zum erstenmal beim Blumenkauf : Er war nur einer unter vielen, beschaeftigt mit Alltaeglichem, so sorglos, dass er Blumen kaufte. Er nahm sich vor, pedantisch zu sein. Im kuehlen Blumengeschaeft, als jemand, der sich Gladiolen einwickeln liess, fuehlte er sich so geborgen, dass er der Verkaeuferin helfen wollte, die Schleife zu binden. [...] Dass sie waehrend ihrer ganzen Taetigkeit, vom Beschneiden der Stengel, dem Entfernen der welken Bluetenblaetter bis zum UEberreichen des Strausses keine Bewegung zu viel machte, war jetzt schoen. Er fuehlte sich in dem Laden wie untergestellt. Er konnte laecheln, wenn ihn dabei auch die Lippen spannten, und sie laechelte auch. Gerade diese nur geschaeftsmaessige Freundlichkeit erschien ihm als eine menschenwuerdige Behandlung, und sie ruehrte ihn[57]. Eine aehnliche Erleichterung empfindet Keuschnig in der Pressekonferenz, in dem Restaurant oder nach dem Geschlechtsverkehr mit dem unbekannten Maedchen im Botschaftsgebaeude ; jedesmal also, wenn er sich aeusserst unpersoenlich behandelt fuehlt. Er scheint solche mechanisch ausfuehrbaren Handlungen, die in ihrer Formelhaftigkeit keine Eigeniniziative fordern, der vertrauteren Formen der Kommunikation zu bevorzugen. Ein Offizier tastete ihn ab [...] Endlich etwas, was ohne mich geschieht - etwas, wo ich unbeteiligt zuschauen kann. Eine freie Sekunde! Er wollte irgendwem, irgend etwas dankbar sein. [...] In diesem Moment erlebte er ueberrascht die unpersoenliche Beruehrung der Haende, die seine Schultern abklopften, als eine Aufmunterung. [...] Jetzt nicht wieder gleich alles vergessen, dachte Keuschnig. Dieses ganz sachlich gemeinte Abtasten habe ich heute, um sechs Uhr abend, als eine Zaertlichkeit empfunden![58] Wie vorher bei dem Geschlechtsakt, woran das Besondere fuer ihn ausgerechnet das Gefuehl ist, nicht mit einer einmaligen, bestimmten Frau zusammenzusein und dass er fuer sie austauschbar war[59] fuehlt sich Keuschnig auch in der Pressekonferenz von dem Gedanken seltsam behuetet, dass fuer ihn Politik gemacht wurde[60]. In den unpersoenlichsten Augenblicken des oeffentlichen Lebens erhaelt er durch die Verschmelzung mit der Masse eine neue, wenn auch nur formelhafte Identitaet, die die Kluft zwischen seiner Maske und seinem wahren Ich ploetzlich zu ueberbruecken scheint : Es war so wohltuend, mit den Formulierungen andrer ueber sich nachzudenken : das Programm, das er mitschrieb, sagte ihm, wie er war und was er brauchte, sogar in einer Reihenfolge! [...] Ich bin definiert! dachte er - und das schmeichelte ihn. Definiert zu sein machte ihn endlich anauffaellig, auch vor sich selber[61] Die Suche nach Geborgenheit in der Unpersoenlichkeit verschiedener Dienstleistungen wird auch in der Linkshaendigen Frau thematisiert. Der soeben aus Finnland heimgekehrte Bruno formuliert an dem Tisch eines Restaurants die auch von Bloch und Keuschnig erlebte Erfahrung: Heute hatte ich es noetig, so bedient zu werden. Welch eine Geborgenheit! Welch eine kleine Ewigkeit! [...] Das Objekt dieser stolzen, respektvollen Dienerarbeit zu sein [...] bedeutet [...] wenn auch nur fuer kurze Stunde des Teetrinkens, nicht allein die Versoehnung mit sich selber, sondern, auf eine seltsame Weise, auch die Versoehnung mit der gesamten menschlichen Rasse.[62]. Ein aehnliches Behuetetsein erlebt auch die Protagonistin, die sich ausgerechnet in der unpersoenlichen Atmosphaere des Supermarkts wohlfuehlt : Ich fuehle mich manchmal wohl hier. Franziska zeigte auf einen Sehschlitz hinter einer Styroporwand, wo ein Mann in einem weissen Kittel die Kaeufer beobachtete. Im Laerm musste sie schreien : Und von diesem lebenden Toten fuehlst du dich wahrscheinlich auch noch behuetet? Die Frau : Er passt in den Supermarkt. Und der Supermarkt passt zu mir. Heute jedenfalls.[63].

Waehrend das oeffentliche Leben fuer die Handkeschen Protagonisten eine sichere Zuflucht gewaehrt, erscheint in den Erzaehlungen auf ungewoehnliche Weise ausgerechnet die Privatsphaere als entfremdend und bedrohlich. Das Subjekt befindet sich hier stets in einem feindlichen Element, wo ihm alles nur vorgetaeuscht erscheint. Zu Beginn aller drei Geschichten ist von einer ploetzlichen Entfremdung und Aufloesung die Rede : Die Hauptfigur erlebt eine Art Erleuchtung, die sie daran hindert, das gewohnte Leben weiterzufuehren. In dem Tormann-Text erscheint die Dekonstruktion sozialer Verbindlichkeit allererst als eine blosse Konsequenz Blochs Entlassung, und als solche auf einem fremden Einfluss zurueckzufuehren. Spaeter wird dieser erste Eindruck allerdings korrigiert und der Leser schoepft Verdacht : vielleicht wurde Bloch nicht einmal entlassen und somit liegt die Dekonstruktion seines gewohnten Lebens allein an ihm selbst.

Verglichen mit dem Tormann-Roman bedeutet Die Stunde der wahren Empfindung eine Radikalisierung. Nach dem entscheidenden Traum, in dem er einen Mord begeht, gesteht